Versorgungssicherheit trotz Lieferengpässen
Lieferengpässe bei Medikamenten und Artikeln des täglichen Bedarfs beschäftigen auch das Spital Limmattal. Spitalapotheke und Zentrallager sorgen Tag für Tag dafür, dass die Versorgung der Patientinnen, Patienten und Mitarbeitenden sichergestellt ist. Die wichtigsten Instrumente im Wettrennen um Nachschub: Beharrlichkeit, Erfahrung und sehr viel Flexibilität.
Text und Bilder: Flavian Cajacob
Venanzio Costa hat sein gesamtes Berufsleben in Spitälern zugebracht. Gegen vierzig Jahre sind das inzwischen. Doch so etwas wie jetzt hat er auf seinem langen Weg vom (damals) Krankenpfleger zum Kadermann noch nicht erlebt: «Produkte, die vom Markt verschwinden, das kommt wieder mal wieder vor. Dass allerdings ganze Chargen aus den unterschiedlichsten Bereichen ohne Vorwarnung von einem Tag auf den anderen nicht mehr erhältlich sind, ist neu und stellt uns vor grosse Herausforderungen», sagt der Leiter Einkauf des Spitals Limmattal. Mit dem Badge öffnet er das schwere Tor zu seinem Reich, dem Zentrallager im Untergeschoss des Spitals. Spätestens seit diesem Winter ist das Schlagwort «Medikamentenengpass » in aller Munde – und gut für Schlagzeilen. Costa schiebt einen leeren Rolli beiseite und wirft einen Blick auf die grosse Tafel mit den Lieferstatus, die am Kopf der Regalburg hängt. «Medikamente sind das eine», führt er aus, «aber auch bei all den anderen Produkten, die den Spitalbetrieb aufrechterhalten, kommt es immer wieder zu Engpässen.» Er tippt auf eine Reihe von Termineinträgen: Nicht selten liegen zwischen abgeschickter Bestellung und prophezeiter Lieferung Monate. «Und manchmal wissen selbst die Lieferanten nicht, ob sie von den Herstellern überhaupt Ware erhalten.»
«Medikamente sind das eine, aber auch bei all den anderen Produkten, die den Spitalbetrieb aufrechterhalten, kommt es immer wieder zu Engpässen.»
Venanzio Costa, Leiter Einkauf
Was da hilft?
Venanzio Costa muss nicht lange überlegen: «Erfahrung und Flexibilität».
Für alles Ersatz gefunden
Am anderen Ende des langen Gangs steht zur gleichen Zeit Marion Matousek in ihrem Büro am Computer. Sie ist Co-Leiterin der Spitalapotheke. Was von den Ärztinnen und Ärzten im Limmi verschrieben wird, was im Operationssaal Verwendung findet und in der Pflege benötigt wird – Matousek hat es auf dem Schirm. «Wir führen in unserem Lager 950 verschiedene Artikel. Für 68 davon mussten wir in den letzten Monaten nach Alternativen suchen, da sie schlicht nicht mehr verfügbar sind.» Immerhin acht Prozent des Gesamtbestands seien dies, sagt sie. Betroffen sind vor allem Schmerzmittel, aber auch Antibiotika oder Psychopharmaka und Pharmazeutika zur Behandlung von Herz-Kreislauf-Beschwerden. «Bislang konnten wir alles adäquat ersetzen», führt die Leiterin eines 14-köpfigen Teams aus. Der Aufwand allerdings sei immens. Allein für die Koordination im Zuge der Lieferengpässe wäre mittlerweile ein Job im 80-Prozent-Pensum notwendig.
Was da hilft?
Marion Matousek studiert nicht lange: «Telefonieren, kommunizieren, mit anderen Spitälern zusammenarbeiten.»
«Wir führen in unserem Lager 950 verschiedene Artikel. Für 68 davon mussten wir in den letzten Monaten nach Alternativen suchen, da sie schlicht nicht mehr verfügbar sind.»
Wer regelmässig Zeitung liest und Nachrichten hört, der weiss, wo die Ursachen für die Medikamenten- und Lieferengpässe liegen. Es ist die Summe einer Vielzahl verschiedener Vorkommnisse. Die Liste reicht von der aktuellen geopolitischen Entwicklung und den Begleiterscheinungen der Globalisierung bis hin zu Naturkatastrophen und lokalen Zwischenfällen. Als beispielsweise im Frühjahr 2021 ein Frachter im Suezkanal auf Grund lief und so das Nadelöhr zwischen Asien und Europa tagelang blockierte, brach weltweit der Nachschub für Güter des täglichen Bedarfs zusammen. Was weiter auch nicht erstaunlich sei, wenn man bedenke, dass ein Grossteil des globalen Warenhandels nicht beim Hersteller und nicht beim Kunden, sondern irgendwo da draussen auf offener See in Containerschiffen lagere, sagt Venanzio Costa.
Aber auch der Krieg in der Ukraine wirkt sich unmittelbar auf die Logistik aus, nicht selten verknüpft mit einem menschlichen Schicksal, wie Marion Matousek vor Augen führt: «Ich weiss von einem Lastwagen, der Material zu uns hätte transportieren sollen.» Doch der entsprechende Camion habe die Ukraine nie verlassen; «schlicht und einfach deshalb nicht, weil der Chauffeur kurz vor der Abfahrt zum Kriegsdienst eingezogen wurde». Angesichts solcher Umstände relativere sich manchmal auch einiges. «Der Mann hatte keine Wahl – wir hingegen haben bisher noch immer Wege und Mittel gefunden, um unsere Probleme zu lösen.»
Marion Matousek, Co-Leiterin Spitalapotheke
Und dann sind da natürlich die Nachwehen der Covid-Pandemie, die Lockdowns in China, die geschlossenen Fabriken, die heruntergefahrenen Produktionen, die fehlenden Wirkstoffe und Verpackungsmaterialien. Oder, ganz grundlegend, die wirtschaftlichen Faktoren. Sprich: hohe Herstellungskosten und die damit einhergehende Rentabilität eines Produkts, welche Hersteller zur Sistierung desselben in der Angebotspalette veranlasst. Häufig existiert zwar ein Mitbewerber, der dasselbe oder zumindest ein ähnliches Erzeugnis im Sortiment führt; allerdings ist es diesem nicht immer möglich,umgehend auf die plötzlich explodierende Nachfrage zu reagieren. Diesbezüglich verhalte es sich häufig wie mit einem Joghurt, das zum Beispiel die Migros aus dem Regal nehme, zieht Venanzio Costa einen Vergleich zum Alltag. «Ein anderer Grossverteiler hat sicherlich auch ein ganz ähnlich schmeckendes Joghurt im Angebot, also rennen dann halt alle dorthin – und innert kürzester Zeit ist auch die Alternative nicht mehr verfügbar, weil ausverkauft.»
«Auch wenn es immer wieder Überraschungen gibt, wir haben es so weit im Griff.»
Patientensicherheit gewährleistet
Costa steht im Zentrallager zwischen den meterhohen Regalen. Eine Mangellage ist hier offenkundig nicht zu erkennen. Zum Glück. «Auch wenn es immer wieder Überraschungen gibt, wir haben es so weit im Griff», bestätigt er den ersten Eindruck. Die Kunst bestehe darin, vorauszuschauen, den Bestand an Verbrauchsmaterial und medizinischer Ausrüstung «im Rollen» zu halten. Also nie zu viel einzukaufen und logischerweise auch keine Leerstände zu produzieren, geschweige denn, überschüssiges Material wegwerfen zu müssen. «Das gebietet uns schon allein der Berufsstolz!», sagt der Leiter Einkauf und hebt die Augenbrauen. Vor einem Palett mit Operationshandschuhen bremst er ab. «Als diese vor zwei Jahren auszugehen drohten, bin ich zwischenzeitlich schon ein bisschen ins Schwitzen geraten». Denn ohne sterile Handschuhe keine Operationen. Was das bedeutet, kann sich jede und jeder selbst ausmalen.
Der erfahrene Einkäufer taktierte, telefonierte, improvisierte, verhandelte und gleiste eine neue Strategie hinsichtlich der Bestellzyklen auf. Stets im Hinterkopf: das Wohl der Patientinnen und Patienten. «Dieser Aspekt steht an erster Stelle, alle anderen Ansprüche und Bedürfnisse sind der Patientensicherheit unterzuordnen», betont er. Im Falle der knapp werdenden OP-Handschuhe konnte Costa auf sein weitverzweigtes Netzwerk und seine immense Erfahrung bauen. Und auf eine gesunde Portion Pragmatismus. Als Bauernsohn aus dem Puschlav habe er einst gelernt, mit dem auszukommen, was vorhanden sei. Diesbezüglich könne er seinen Kolleginnen und Kollegen am LIMMI ein Kränzchen winden: «Sie sind flexibel und arrangieren sich meist bereitwillig mit der neuen Situation, etwa wenn ein Produkt, das sie besonders schätzen, durch ein anderes ersetzt wird.» Er zieht einen Packen OP-Überzüge hervor, die nun in Grün anstatt im gewohnten Blau daherkommen. Er schmunzelt. Ein Professor habe einmal zu ihm gesagt: «Herr Costa, wir essen, was Sie auf den Tisch bringen – Hauptsache, Sie bringen uns etwas auf den Tisch.»
Darüber zu diskutieren, ob das WC-Papier auf der Besuchertoilette nun blütenweiss oder veilchenblau daherkommt, scheint wohl müssig. Anders freilich sieht es bei den lebenswichtigen Medikamenten aus. Hier kann nicht einfach A gegen B ausgetauscht werden, zu komplex ist häufig ihre Zusammensetzung. Marion Matousek lässt auf ihrem Computer eine lange Excel-Tabelle durchrattern. Die grossen Umstellungen im Sortiment hätten deutlich zugenommen, hält sie fest. «Kam es früher vielleicht alle zwei Monate zu einer nennenswerten Anpassung, so sind es heute deren zwei pro Monat.» Einhergehend mit dem Wechsel vom üblichen auf ein neues Präparat stelle sich dann stets die Frage nach den Wirkstoffen und der Konzentration. «Solche Umstellungen sollen und dürfen sich ja nicht auf die Patientensicherheit auswirken», sagt die Co-Leiterin der Spitalapotheke. Damit es nicht zu Unter- oder Überdosierungen komme, sei ein lückenloser Informationsaustausch und eine ausführliche Kommunikation mit den richtigen Stellen erforderlich. «Angesichts dessen, dass Lieferungen nicht selten auf den letzten Drücker bei uns eingehen, ist das natürlich eine zusätzliche Herausforderung für alle Beteiligten.»
Verhaltene Zuversicht
Wenngleich die momentanen Verhältnisse nicht optimal sind und der Medikamentenengpass vom Bundesrat unlängst als «problematisch» eingestuft wurde: Von Verunsicherung oder gar Resignation ist am Spital Limmattal nichts zu spüren. «Wir haben gelernt, mit den Unwägbarkeiten umzugehen», sagt Marion Matousek. Allzu schnell werde sich an der Situation auch nichts ändern, ist sie sich sicher. «Umso wichtiger ist es, der Entwicklung auf den Weltmärkten stets einen Schritt voraus zu sein und Lücken erst gar nicht entstehen zu lassen.»
Im Spitalalltag haben sich verschiedene Lösungsansätze herauskristallisiert, mit denen Verzögerungen und Engpässen begegnet wird (siehe Kasten unten). Es sind dies praktische, kurzfristig und lokal wirkende Massnahmen in einem System, das nach globalen und langfristigen Veränderungen ruft. «Die Ursache liegt in der Regel ja im Produktionsland», bemerkt Marion Matousek. Dass dereinst einmal sämtliche Pharmazeutika in der Schweiz produziert werden könnten und damit die Abhängigkeit vom Ausland unterbunden würde, diesen Ansatz erachtet die Co-Leiterin der Spitalapotheke als utopisch. «Was uns diesbezüglich aber sicherlich helfen würde, wäre allein schon eine Verkürzung der Lieferketten, wenn also die Produktionsstätten wieder näher an uns heranrücken würden, beispielsweise aus Asien nach Italien oder Portugal.»
Was die Artikel des täglichen Spitalbedarfs anbelangt, so macht Venanzio Costa einen Silberstreifen am Horizont aus. Die Situation sei zwar nach wie vor sehr fragil, sagt der Leiter Einkauf, «aber im Spital Limmattal sind wir so aufgestellt, dass wir auf Überraschungen rasch und effektiv reagieren können». Er setzt einen Haken hinter einen der vielen Termineinträge, wirft einen Blick zwischen die langen Regale, dann schliesst er das wuchtige Tor zum Zentrallager und nickt zufrieden. «Irgendwie», sagt Costa, «geht immer irgendetwas – und geht nicht, gibt’s bei uns einfach nicht.»
Individuelle Medikamente in 20 Minuten
Die Spitalapotheke des Spitals Limmattal stellt die Therapien für onkologische Patientinnen und Patienten her, während diese sich von der Sprechstunde ins Behandlungszimmer begeben. Innert rund 20 Minuten nach Verordnung stehen die fixfertigen, persönlich und individuell hergestellten Produkte der Onkologiepflege zur Verfügung. Nischenprodukte, die im Handel nicht mehr erhältlich sind, lässt die Spitalapotheke zudem im Lohnauftrag in dafür spezialisierten grösseren Herstellbetrieben produzieren.