Im Blickpunkt| 26.07.2022

«smarter medicine» – Weniger kann mehr sein

Die moderne Medizin macht vieles möglich. Doch nicht alles, was technisch möglich ist, ist medizinisch sinnvoll. Mit «smarter medicine» beugt das Spital Limmattal Fehl- und Überversorgung vor. In der Verantwortung stehen aber auch die Patientinnen und Patienten.

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Text: Flavian Cajacob

Das beste Netz, die tollste Ausrüstung, der exklusivste Service: Die Werbung verspricht uns vieles, wenn der Tag lang ist – und wir haben uns diese Maxime über die Jahre hinweg verinnerlicht. Hand aufs Herz: Wer in der Schweiz lebt, für den ist nach persönlichem Empfinden sowieso nur das Beste gut genug. Das gilt auch und in ganz besonderem Masse für die Gesundheit. Jährlich investiert unsere Null-Risiko-Gesellschaft Milliarden in Versicherungen und Krankenkassen, um im Falle eines Falles bestens beraten und versorgt zu sein. Wer viel zahlt, hat folgerichtig auch hohe Ansprüche.

Unumgänglich oder unnötig?

Das bleibt allerdings nicht ohne Folgen. Einhergehend mit dem generellen Fortschritt in Diagnostik, Behandlung und Therapie, hat die gesteigerte Erwartungshaltung seitens Patientenschaft in den letzten Jahren mitunter zu einer medizinischen Über- und Fehlversorgung geführt. Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts GfK im Jahre 2018 hat ergeben: Mehr als die Hälfte der Menschen in der Schweiz hat das Gefühl, sie selber oder eine Person aus dem nächsten Umfeld seien medizinisch schon einmal unnötig behandelt worden. Gemäss einer weiteren Studie, die 2012 im Auftrag der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften durchgeführt worden
ist, sind zwischen 20 und 30 Prozent der medizinischen Eingriffe unangebracht oder gar überflüssig.

Zahlen, die zu denken geben. Zahlen, die es jedoch zu relativieren gelte, sagt Prof. Dr. med. Alain Rudiger, Chefarzt Medizinische Klinik am Spital Limmattal und Mitglied der Spitalleitung. «Solche Studien sind meist rückwirkend ausgelegt, sie gehen also von der Annahme aus, was hätte sein können, nicht von dem, was tatsächlich gewesen ist.» Durch Untersuchungen müssten primär gefährliche und behandelbare Krankheiten ausgeschlossen werden. In der Praxis verhalte es sich diesbezüglich ähnlich wie mit einem Autoservice. «Wenn Sie Ihren Wagen regelmässig von der Garage warten lassen und nie eine Panne haben, kommen Sie nachträglich vielleicht auch zum Schluss, dass Sie sich diesen Service eigentlich hätten sparen können – wenngleich Sie gar nicht wissen können, wie es dann herausgekommen wäre.» Also alles halb so schlimm? Alain Rudiger schüttelt den Kopf. «Nein, natürlich nicht, auch im Spital Limmattal wollen wir Fehl- und Überversorgung vermeiden und die Mitarbeitenden für das Thema sensibilisieren.»

Infografiken für besseres Verständnis 

Seit vier Jahren ist das Spital Limmattal deshalb Partner von «smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland». Der Verein macht Ärztinnen und Ärzte, das Pflegefachpersonal, Patientinnen und Patienten sowie die Gesellschaft per se auf medizinische Fehl und Überversorgung aufmerksam (siehe Kasten). Bei Letzterer – so viel zur Begriffsklärung – geht die Versorgung über den tatsächlich angezeigten Bedarf hinaus, von Fehlversorgung hingegen wird gesprochen, wenn der potenzielle Schaden einer Versorgung den effektiven Nutzen überwiegt.


«Unser Ziel ist immer, alles zu machen – alles, was medizinisch sinnvoll ist und dem Patienten nützt, aber nicht alles, was technisch möglich ist und dem Patienten schadet.» 

Prof. Dr. med. Alain Rudiger, Chefarzt Medizinische Klinik


«Mit gezielten Kampagnen und Infografiken können wir aufzeigen, welche Abklärungen und Therapien zu welchem Zeitpunkt angebracht und sinnvoll sind – und wo ein Zuwarten oder alternative Herangehensweisen weit hilfreicher wären, respektive mehr bringen würden», erläutert Daniela Mächler, Leiterin Qualitäts- und Risikomanagement im Spital Limmattal. Dezidiert fügt sie hinzu: «Dabei handelt es sich nicht um zwingende Vorgaben, sondern um Empfehlungen. Letztlich soll sicherlich niemandem der Zugang zu einer sinnvollen Behandlung verwehrt werden.» 

Gerade die auf die jeweiligen Fachgebiete abgestimmten Infografiken und «Top Five»-Listen bieten den behandelnden Ärztinnen und Ärzten eine gewisse Orientierungs- und Argumentationshilfe.

Wenngleich – auch das hat eine repräsentative Studie ergeben – Ärztinnen und Ärzte heute schon die in den Listen aufgeführten Empfehlungen befolgen. «Insofern dienen diese primär als Absicherung, als Erinnerung und Bestätigung, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben», so Alain Rudiger. Grundsätzlich richten sich die Checklisten nach den Empfehlungen für evidenzbasierte und effiziente Medizin. Sie beruhen allesamt auf nationalen und internationalen Studien. Als Beispiel kann der Einsatz von Bluttransfusionen vor Augen geführt werden. Blutkonserven können zwar lebensrettend sein, bei einem zu grosszügigen Einsatz indes wiegen die Nachteile plötzlich schwerer als die Vorteile. Aus diesem Grund wurden daraus Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin und der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin abgeleitet, wonach Bluttransfusionen restriktiv einzusetzen sind. Dadurch kann die Behandlungsqualität erhalten bleiben, gleichzeitig werden Risiken unerwünschter Wirkungen minimiert und erst noch Kosten eingespart.

Weniger ist mehr, optimal nicht maximal, zuwarten statt vorpreschen: Ein bisschen käme «smarter medicine» aber auch einem Paradigmenwechsel gleich, führt Alain Rudiger aus. Zumindest dann, wenn man das Dasein als Mediziner nach althergebrachtem Muster interpretiere. «Von einem Arzt wird ja grundsätzlich erwartet, dass er etwas tut, nicht, dass er etwas nicht tut.» Es sei noch kaum einmal ein Mediziner verurteilt worden, wenn er eine Untersuchung zu viel gemacht habe. Umgekehrt kann das Verpassen einer Diagnose aufgrund einer nicht durchgeführten Untersuchung in einem Haftpflichtprozess enden. Auch das hat mit der Erwartungshaltung zu tun, die in den Köpfen und im Wartezimmer sitzt. Wie hielt der römische Philosoph Epiktet bereits vor zweitausend Jahren treffend fest? «Einem Arzt, der nichts verschreibt, zürnen die Kranken und glauben, sie seien von ihm aufgegeben.» Diese Erwartungshaltung, gepaart mit der Angst, eine Diagnose zu verpassen, trüge sicherlich ihren Teil zur Überversorgung bei, ist sich Alain Rudiger sicher. Insofern könnten wissenschaftlich abgestützte Kampagnen wie «smarter medicine» auch für Sicherheit sorgen – im Entscheiden, im Handeln, im Argumentieren.

Gerade hier sieht Daniela Mächler auch das grosse Plus von «smarter medicine». Speziell die verständlich gehaltenen Infografiken erleichterten die Kommunikation mit Patientinnen und Patienten enorm, sagt sie. «Insbesondere in Bereichen, in denen eine hohe Erwartungshaltung herrscht und Betroffene mit der vorgefassten Meinung ins Spital kommen, dass diese oder jene Massnahme die einzig richtige sei.» Der visuelle Zugang zu einer mitunter komplexen Materie vermittelt auf einfache und nonverbale Art, weshalb der Verzicht auf eine als üblich angenommene Massnahme für Patientinnen und Patienten von Vorteil ist und welche Risiken mit den jeweiligen Behandlungen einhergehen. «Das kann sich direkt auf die Lebensqualität der Betroffenen auswirken und steigert die Qualität der medizinischen Leistung insgesamt. Wenn zusätzlich noch Kosten gesenkt werden können, dann profitieren alle davon – aber ganz bestimmt ist das nicht der zentrale Antrieb», betont Daniela Mächler. «Wer im Gesundheitswesen auf gute Qualität achtet, der wird die Kosten senken. Wer jedoch nur die Kosten senken will, der reduziert damit auch die Qualität», ergänzt Alain Rudiger.


«Mit smarter medicine soll niemandem der Zugang zu einer Behandlung verwehrt werden.»


Daniela Mächler, Leiterin Qualitäts- und Risikomanagement

Gespräch von zentraler Bedeutung

So liegt es ebenso am medizinischen Fachpersonal wie an den Patientinnen und Patienten, eine Güterabwägung vorzunehmen, um Risiken und Nutzen, Vor- und Nachteile einer Diagnose oder einer Therapie in Relation zueinander zu setzen. «Das Gespräch zwischen Behandelnden, Patientinnen und Patienten nimmt dahingehend auch weiterhin eine ganz zentrale Rolle ein», stellt Daniela Mächler klar. «Es findet keine Rationierung statt, der Entscheid, ob eine medizinische Massnahme ergriffen wird oder nicht, wird immer individuell und gemeinsam mit den betroffenen Personen gefällt.»

Letztendlich geht es bei «smarter medicine» darum, für ein konkretes Problem die optimale Lösung zu finden – und nicht zwangsläufig die maximale. Als Beispiel zieht Alain Rudiger die Volkskrankheit Rückenschmerzen heran. In neun von zehn Fällen verschwänden diese binnen sechs Wochen von selber. «Statt also gleich am zweiten Tag ein Röntgenbild anzufertigen, das die Patientin oder den Patienten einer Strahlungsbelastung aussetzt, können Physiotherapie und Schmerzmittel Linderung verschaffen – geröntgt wird in der Regel erst nach sechs Wochen. Wichtig bleibt aber, in Ausnahmefällen trotzdem frühzeitig eine Untersuchung einzuleiten. Beispielsweise,
wenn Lähmungserscheinungen auftreten oder der Verdacht auf einen Infekt oder einen bösartigen Tumor besteht.»

Auch hier gelte es natürlich, individuell vorzugehen und ein gesundes Augenmass walten zu lassen. «In der Regel zeigen sich Patientinnen und Patienten aber äusserst dankbar, wenn man ihnen schlüssig aufzeigen kann, dass bekannte Massnahmen oder Eingriffe nach aktuellem Stand der Wissenschaft nicht angebracht sind», so Alain Rudiger. Ist dies der Fall, so hat «smarter medicine» ihr Ziel auf jeden Fall erreicht: sowohl Arzt und Ärztin als auch Patientin und Patient für den Fakt zu sensibilisieren, dass weniger mitunter eben doch mehr ist.


5 Fragen, die Patientinnen und Patienten stellen sollten

Ärztin, Arzt, Patientin und Patient: Sie bilden eine Partnerschaft in Sachen Gesundheit. Deshalb ist es wichtig, sich gut auf eine Konsultation vorzubereiten. Fünf grundlegende Fragen helfen mit, richtige Entscheide zu fällen und unnötige Eingriffe oder Therapien frühzeitig auszuschliessen.

  • Gibt es mehrere Behandlungsmöglichkeiten?
  • Gibt es mehrere Behandlungsmöglichkeiten?

    Es gibt fast immer mehrere Behandlungsoder Therapiemöglichkeiten. Sprechen Sie mit Ihrer Ärztin, Ihrem Arzt über alle Optionen. Im gemeinsamen Gespräch können Sie herausfinden, welche dieser Möglichkeiten für Sie am geeignetsten ist und Ihren Bedürfnissen am besten entspricht.

  • Was sind die Vor- und Nachteile der empfohlenen Behandlung?
  • Was sind die Vor- und Nachteile der empfohlenen Behandlung?

    Fragen Sie nach dem Nutzen, aber auch nach dem Schaden, der mit der empfohlenen Behandlung entstehen kann. Je mehr Sie über eine Behandlung wissen, desto besser können Sie entscheiden, was Ihnen wichtig ist, desto mehr wissen Sie über mögliche Nebenwirkungen, die auftreten können.

  • Wie wahrscheinlich sind die Vor- und Nachteile?
  • Wie wahrscheinlich sind die Vor- und Nachteile?

    Sie sollten nicht nur wissen, welches die Chancen und Risiken einer Behandlung sind, Sie sollten auch wissen, wie gross die Wahrscheinlichkeit ist, dass diese eintreten. Lassen Sie sich dazu von Ihrer Ärztin, Ihrem Arzt aufklären und wägen Sie im Gespräch ab, welchen Einfluss die Behandlung auf Ihren Gesundheitszustand und Ihre Lebensumstände haben kann.

  • Was passiert, wenn ich nichts unternehme?
  • Was passiert, wenn ich nichts unternehme?

    Manchmal kann man zuwarten. Und manche Beschwerden verschwinden von alleine wieder oder werden nicht besser, wenn man sie behandelt. Sprechen Sie mit Ihrer Ärztin, Ihrem Arzt darüber, was die Konsequenzen sind, wenn Sie keine medizinische Behandlung möchten oder lieber noch abwarten.

  • Was kann ich selbst tun?
  • Was kann ich selbst tun?

    Gesundheit lässt sich nicht einfach delegieren. Wie schnell Sie wieder gesund werden, hängt auch von Ihnen ab. Fragen Sie deshalb, was Sie ganz konkret tun können, um Ihre Gesundheit positiv zu beeinflussen. Auch bei chronischen Erkrankungen können Sie dazu beitragen, ein Fortschreiten zu verlangsamen oder zu verhindern.

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+41 44 733 11 11

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Für Eltern von Kindern und Angehörige schwerkranker Patienten gelten Ausnahmeregelungen.

Auf den Privat- und Halbprivatabteilungen können in Absprache mit dem Pflegepersonal individuelle Termine vereinbart werden.

Intensivpatienten können von ihren nächsten Angehörigen und Bezugspersonen, nach Absprache mit dem Pflegepersonal, auf der Intensivstation besucht werden.

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