Erwartungen, Freuden und Herausforderungen im Pflegezentrum
Zwischenmenschliche Kontakte sind zentral für die Gesundheit. Geriatrie und Langzeitpflege tragen dazu bei, dass die Lebensqualität im Alter möglichst hoch bleibt: Mehr zu diesen Themen im Interview mit unserem Ärztlichen Leiter des Pflegezentrums, Dr. med. Adrian Bisig.

Interview: Flavian Cajacob
Der Eintritt in ein Pflegezentrum ist mit Erwartungen und Ängsten verknüpft. Nebst der medizinischen Betreuung kommt daher dem emotionalen Aspekt im Umgang mit Bewohnenden und Angehörigen viel Bedeutung zu. Dr. med. Adrian Bisig, Ärztlicher Leiter Pflegezentrum Spital Limmattal, über die Herausforderungen und Freuden in Geriatrie und Langzeitpflege.
Adrian Bisig, was ist das A und O eines zeitgemässen Pflegezentrums?
Dass es für seine Bewohnenden zu einem Zuhause wird. Ein zeitgemässes, gut aufgestelltes Pflegezentrum ermöglicht ihnen dank Hilfestellung und Betreuung ein Leben in grösstmöglicher Autonomie. Dies zu einem Zeitpunkt, da diese Eigenständigkeit in den angestammten, eigenen vier Wänden nicht mehr gegeben ist.
Meistens läutet der Eintritt in ein Pflegezentrum den letzten Lebensabschnitt ein.
Das muss nicht zwangsläufig sein, jedenfalls verhält es sich bei uns am Pflegezentrum Spital Limmattal nicht so. Bei rund der Hälfte unserer Bewohnenden besteht ein Akutpflegebedarf und sie können nach ein paar Wochen Pflege wieder nach Hause. Alternativ sind auch Übertritte in andere Alterswohnformen möglich. In der Mehrheit der Fälle ist es aber schon so, wie Sie sagen. Ich wehre mich jedoch gegen das Verdikt, dass das Pflegezentrum stets die «letzte» Station auf dem Lebensweg sein muss. Wir sind ganz einfach der richtige Ort für eine bestimmte Lebensphase.
Eine Phase, die in aller Regel in eine stationäre Lösung mündet.
Da die Mehrzahl unserer Bewohnenden vom Akutspital zu uns übertritt, sind sie auf einen Pflegezentrums-Eintritt oft unvorbereitet. Ich schätze, dass neun von zehn Eintretenden davon ausgehen, irgendwann wieder nach Hause gehen zu können. Selten hören wir, dass jemand sagt: So, ich bin jetzt hier, um zu bleiben. In der Realität verhält es sich dann häufig anders. Das hat aber weniger mit Resignation zu tun als vielmehr mit der Einsicht, dass das Pflegezentrum doch nicht so «schlimm» ist wie zuerst gedacht – und dass es die beste Lösung dafür ist, den nächsten Lebensabschnitt in Anbetracht der physischen und psychischen Umstände in grösstmöglicher Autonomie
gestalten zu können.
Wie lässt sich diese Einsicht fördern?
Ich sage immer, man muss das Leben in einer Institution wie der unsrigen selbst erfahren, um die Befürchtungen und Vorurteile abbauen zu können. Die Wirklichkeit sieht häufig anders aus, als man sie sich aufgrund von Erzählungen vorstellt. Das merkt, wer erst einmal ein paar Tage bei uns verbracht hat. Wissen Sie, was die schlimmste Begleiterscheinung des Alterns ist?
«Bei rund der Hälfte unserer Bewohnenden besteht ein Akutpflegebedarf und sie können nach ein paar Wochen Pflege wieder nach Hause.»
Gebrechen, Krankheit …
Nein, es ist die Vereinsamung, der fehlende Austausch, es ist die soziale Isolation. Ein Pflegezentrum unterscheidet sich im Vergleich zur eigenen Wohnung oder zu einer Alterswohnung primär dadurch, dass die sozialen
Kontakte automatisch gegeben sind. Es wird soweit möglich gemeinsam gegessen, auf dem Gang kommt es zu einem kurzen Schwatz, zwischen den Bewohnenden und dem Pflegefachpersonal findet ein Beziehungsaufbau statt. Zudem besteht ein breites Angebot über unsere hausinterne Aktivierungstherapie
, ein wichtiger Aspekt in einer Pflegeinstitution. In einer Zeit, in der «social prescribing», also das Verschreiben von sozialen Kontakten, in aller Munde ist, kann eine interprofessionell aufgestellte Institution wie unser Pflegezentrum hier punkten. Einsamkeit führt zu psychischen Erkrankungen, rascherem kognitivem Abbau und erhöhter Mortalität. Die Corona-Pandemie hat dies für alle deutlich gezeigt.
Sie sprechen die Wichtigkeit zwischenmenschlicher Kontakte an.
Genau. Die soziomedizinischen Aspekte sind in der Geriatrie
hoch gewichtet, ohne dass der klassische organmedizinische Bereich vernachlässigt wird. Gerade bei Menschen, die zum Zeitpunkt ihres Eintritts ins Pflegezentrum gesundheitlich und energetisch noch über eine gewisse Reserve verfügen, merkt man sehr schnell, wie sehr sie die sozialen Kontakte schätzen und darob richtiggehend aufblühen.
Angehörige plagt indes häufig ein schlechtes Gewissen, wenn es um die Frage geht, ob der Vater oder die Mutter ins Pflegeheim soll. Wie gehen Sie als Institution damit um?
Diese Gedanken sind nachvollziehbar, kursieren doch in der Gesellschaft allerhand Räubergeschichten über pflegerische Institutionen. Manchmal sind es die Angehörigen selbst, die auf die Bremse treten, wenn es darum geht, den Umzug von Vater oder Mutter in ein Pflegeheim in Betracht zu ziehen. Als Fachleute geben wir in Gesprächen und nach intensiver Bedarfsabklärung eine Empfehlung ab, ob eine institutionelle Betreuung auf Dauer sinnvoll wäre oder sogar dringend angebracht ist. Die meisten Menschen erkennen im Laufe ihres Aufenthalts von alleine ihren Betreuungsbedarf und die Vorteile eines definitiven Umzugs ins Pflegezentrum. Häufig erwähnt wird bei uns auch
der Vorteil der Spitalnähe – mit entsprechend erhöhter medizinischer Sicherheit.
Wie gestaltet sich der von Ihnen erwähnte Entscheidungsprozess konkret?
Wie erwähnt treten die meisten unserer Bewohnenden direkt im Anschluss an einen Aufenthalt im Akutspital ins Pflegezentrum über, zur sogenannten Übergangspflege. Nach etwa zwei Wochen setzen wir uns im interprofessionellen Team gemeinsam mit den Bewohnenden und den Bezugspersonen an einen grossen runden Tisch. Im Rahmen dieses Gesprächs erläutern wir von jeder involvierten Fachrichtung den Bedarf und die Entwicklung seit dem Aufenthalt. Zudem wird den Vorstellungen, Wünschen und Beobachtungen der Bewohnenden und deren Angehörigen Raum gegeben. Auf diese Weise versuchen wir, in einem konstruktivem Rahmen gemeinsam eine für alle passende Wohnform zu finden. Gelegentlich wird dieses Gespräch in reduziertem Umfang wiederholt. Ziel ist es, divergierende oder unrealistische Vorstellungen zu vermeiden. Klarheit ermöglicht schliesslich auch ein Ankommen in der neuen Situation.
«Die soziomedizinischen Aspekte sind in der Geriatrie hoch gewichtet, ohne dass der klassische organmedizinische Bereich vernachlässigt wird.»
Ein höchst emotionaler Vorgang.
Die Gemüter schwanken stets zwischen «aber irgendwie geht es doch noch zuhause» und der Einsicht, dass der Eintritt in eine bedarfsgerechte Institution durchaus Sinn ergibt. Wenn ich eingangs erwähnt habe, dass neun
von zehn neu Eintretenden davon ausgehen, dass sie irgendwann wieder nach Hause können, dann reduziert sich dieses Ziel nach einigen Wochen stark. Einfach aufgrund dessen, dass das Fremde mit der Zeit zum Vertrauten wird und die sozialen Komponenten zu spielen beginnen.
Was sind die grössten Ängste, die an solch einem runden Tisch zur Sprache gebracht werden?
Das ist von Fall zu Fall verschieden. Die Sorgen bezüglich der Finanzierung des Aufenthalts sind sicherlich ein dominierendes Thema. Der Aufenthalt im Pflegeheim muss ja bis zum Erreichen der Ergänzungsleistungsgrenze selber finanziert werden. Wenn jemand jedoch beispielsweise ein Eigenheim besitzt, hat sie oder er aber nur bedingt Anspruch auf Ergänzungsleistungen. Was also tun? Unser hausinterner Sozialdienst, der bei den interprofessionellen Gesprächen ebenfalls dabei ist und die Bewohnenden bestens kennt, unterstützt im Ausloten der Möglichkeiten. Nichtsdestotrotz kann der Eintritt in eine Pflegeinstitution ganze Familienverbände emotional und ökonomisch aufreiben.
Das Pflegezentrum heisst Pflegezentrum, weil hier gepflegt wird.
Da haben Sie recht, wenngleich Sie sich unter «Pflege» ganz generell wahrscheinlich etwas anderes vorstellen als wir.
«Die meisten Menschen erkennen im Laufe ihres Aufenthalts von alleine ihren Betreuungsbedarf und die Vorteile eines definitiven Umzugs ins Pflegezentrum.»
Natürlich steht die Pflege bei uns an oberster Stelle, dies aber im weitreichenden Sinne. Denn im Pflegezentrum wollen wir die Bewohnenden in erster Linie zur Selbst-Pflege animieren, um die persönlichen Ressourcen zu erhalten
oder wiederzuerlangen. Das ist eine schwierige, aber enorm wichtige Aufgabe, denn die sogenannte Selbstpflegekompetenz ermöglicht höhere Autonomie und Lebensqualität. Wer ohne grosse Hilfe aufstehen kann, wer sich so lange und so weit als möglich selbständig waschen oder zur Toilette gehen kann, der bewahrt sich ein Mass an Eigenständigkeit. An uns als Medizinern und Pflegefachpersonen ist es, diese Autonomie unserer Bewohnenden so lange wie möglich aufrechtzuerhalten.
Es geht um Lebensqualität. Im Alter wird diese jedoch häufig beeinträchtigt durch verschiedene Erkrankungen, die zu Einschränkungen führen. Wie beeinflusst das Thema Multimorbidität den Alltag im Pflegezentrum?
Chronische Vielfacherkrankungen sind insbesondere im Pflegezentrum natürlich an der Tagesordnung, der Umgang damit eine facettenreiche Herausforderung, da Multimorbidität in unserer hochspezialisierten Organmedizin zu vielen Therapien und Medikamenten führt. Jeder Wirkstoff wiederum hat positive und negative Wirkungen. Zudem bestehen Wechselwirkungen untereinander. Ab der Einnahme von fünf verschiedenen Wirkstoffen pro Tag spricht man von Polypharmazie mit erhöhtem Komplikationspotential. Also geht es darum, die Zahl der Wirkstoffe dort, wo es vertretbar ist, und unter Berücksichtigung der verbleibenden Lebenszeitspanne, zu reduzieren.
Was bedeutet das in der Praxis?
Die Geriatrie hat nicht zum Ziel, das Leben um jeden Preis zu verlängern. Ihr Ziel ist es, die individuelle Lebensqualität möglichst lange hochzuhalten. Das bedeutet in der Regel, Leiden zu mindern und Autonomie zu erhalten. Wirkstoffe, deren Effekt erst in einiger Zeit auftreten wird, müssen kritisch überprüft werden. Ein scharfes Auge richten wir auf die sogenannten Kaskadenverordnungen. Das sind Medikamente, welche aufgrund von Nebenwirkungen anderer Medikamente verordnet wurden. Ich denke hier zum Beispiel an übelkeitshemmende Medikamente bei vielen Schmerztherapien, aber auch an Wassereinlagerungen in den Beinen, welche zum Beispiel durch bestimmte Blutdruckmedikamente verursacht werden und dann häufig zu wassertreibenden Therapien führen können. Hier kann das Anpassen oder eben Absetzen der ersten Behandlung zum gleichzeitigen Stopp der anderen Therapie führen.
«Die Geriatrie hat nicht zum Ziel, das Leben um jeden Preis zu verlängern. Ihr Ziel ist es, die individuelle Lebensqualität möglichst lange hochzuhalten.»
Der Umgang mit betagten Bewohnenden ist alles andere als einfach. Dementsprechend viel Erfahrung sollte wohl auch das Pflegefachpersonal mitbringen, oder?
Wir haben sehr erfahrene Pflegeteams im Pflegezentrum Spital Limmattal, die dank ihrer Expertise und dem interprofessionellen Agieren eine sehr hohe Pflegequalität leisten. Und erfreulicherweise zieht es immer wieder
auch jüngere Fachpersonen explizit in die Langzeitpflege.
Weshalb ist das so?
Das müssen sie die Pflegenden direkt fragen. Ich denke, dass sich die Konstanz und die Möglichkeit zum Beziehungsaufbau mit den Bewohnenden sicherlich positiv auswirken. Zudem ist in einer Pflegeinstitution – wie der Name es schon sagt – die Pflege im Lead. Die akutmedizinischen Probleme sind stabilisiert, es verbleiben die Einschränkungen, insbesondere bei der Selbstpflege. Hier mit dem entsprechenden professionellen Hintergrund zu unterstützen, ist sicherlich erfüllend.
Sie haben als Hausarzt vor ein paar Jahren in die Geriatrie gewechselt. Was macht die Faszination der Altersheilkunde aus?
Der menschliche Aspekt. Man bewegt sich in einem Umfeld, das authentisch und ungeschönt ist. Für Aussenstehende ist es vielleicht schwer nachvollziehbar, aber es gibt wohl nichts Ehrlicheres und Bereichernderes, als jemanden auf dem letzten Stück seines Lebenswegs begleiten zu dürfen. Das ist sicher nicht immer lustig, aber unglaublich erfüllend.
Erfahren Sie in Ihrem Alltag Dankbarkeit?
Die Menschen, die zu uns kommen, sind häufig mit sich und ihrem Leben im Reinen. Anfänglich reden sie vielleicht von nichts anderem, als dass sie nur noch sterben möchten, «der da oben» sie aber dummerweise vergessen habe. Nach ein paar Tagen bei uns haben sie dann das Gefühl, dass es ihnen eigentlich noch recht gut gefalle und sie jetzt einfach noch eine möglichst schöne Zeit erleben möchten. Ich empfinde dies schon als eine gewisse Dankbarkeit.
Der Tod ist in einem Pflegezentrum allgegenwärtig. Die Angst davor auch?
Wenn Sie in einem Pflegezentrum leben, dann sind Sie in der Regel in einem Alter, in dem sich ihr Umfeld schon stark verändert hat. Partner, Familienangehörige, Freunde, Nachbarinnen, Bekannte sind verstorben. Wegen dieser Lebenserfahrungen lässt sich der Tod nicht mehr tabuisieren, wie es in der jüngeren Bevölkerung häufig der Fall ist. Der Tod gehört zum Leben. Diese Erkenntnis haben betagte Menschen häufig wiederholt gemacht und sie schliessen sich aus dieser Regel auch nicht mehr aus.
Wie wirkt sich die tägliche Arbeit auf Ihre persönliche Einstellung gegenüber dem Tod aus?
Über die vielen Jahre hinweg kann ich sicherlich sagen, dass ich gegenüber meiner eigenen Endlichkeit gelassener geworden bin. Es geht definitiv auch ohne mich weiter. Ich weiss auch, welche Aspekte für mich hinsichtlich
der Lebensqualität wichtig sind – heute und im Alter. Und ich denke, dass ich allfällige Unterstützung im Leben akzeptieren könnte, wenn es denn einmal nötig sein sollte. Das war sicher nicht immer so. Man wird mit dem Alter halt auch ein bisschen weiser.